Interview vom 15.6.2003 mit Oleg Torbasov und Denis Seliviorstov von der Russischen Maoistischen Partei, die am ⅩⅠ. Internationalen Pfingstjugendtreffen im Juni teilnahmen
Wie hat euch das Pfingstjugendtreffen gefallen?
Wir waren sehr beeindruckt. Wir haben so eine Sache in Russland bisher nicht gesehen. Sehr viele fortschrittliche Leute, auch aus verschiedenen Ländern, sind bei diesem Festival zusammengekommen. Wir haben noch einen sehr weiten Weg zu gehen, um so ein hohes Organisationsniveau zu erreichen. Wir haben auch geringe Kräfte und wenig Möglichkeiten, um so viele Menschen zusammenzubringen. Nicht so sehr auf nationaler, aber vor allem auf internationaler Ebene.
Könnt Ihr ganz kurz die Situation der Menschen in Eurem Land beschreiben? Wie leben sie, was arbeiten sie, was sind ihre größten Probleme?
Zurzeit herrscht eine relative Stabilität, die aber jeden Moment zusammenbrechen kann. Die Stabilität liegt am momentanen hohen Ölpreis. Das Öl ist das Hauptexportprodukt Russlands. Die Öl und Gas-monopole haben viel Macht in Russland. Diese Monopole bilden die Grundlage von Putins Regime. Das Putin-Regime beschneidet die politischen Rechte der Arbeiterklasse, der ganzen Bevölkerung und verschiedener politischer Gruppen. Jede Opposition wird unterdrückt, moderate Gewerkschafter oder auch radikalere Gruppen. Eine Gruppe hat z. B. Das Grabmal des Zaren Nikolai Ⅱ. In die Luft gesprengt. Keine Menschen kamen dabei ums Leben, es war ein symbolischer Akt. Diese Sache wurde als terroristisch eingestuft und die Leute wurden zu 10 Jahren und mehr Gefängnis verurteilt. Obwohl wir solche Aktionen natürlich nicht gutheißen, verteidigen wir diese Leute gegen die Polizeiaktionen.
Es gibt viele arme Menschen in Russland. Die Reicheren leben in Moskau oder in ölproduzierenden Gebieten. In der Mehrzahl der Städte ist die Bevölkerung eher arm. Die Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen. Vor einigen Jahren hatten wir 9 Millionen Arbeitslose, jetzt sind es 6 Millionen. In Russland leben ca. 137 Mio. Menschen, die Arbeitslosenquote beträgt also ungefähr 6% der Bevölkerung.
Viele junge Leute können eine Universitätsausbildung bekommen, aber das Bildungsniveau ist nicht sehr hoch. Der Zugang zur Bildung ist frei und kostenlos, aber das Niveau ist nicht mehr so hoch als noch vor einigen Jahren. Die Jugendlichen haben auf jeden Fall die Garantie, zwei Jahre in der Armee arbeiten zu können. Aber natürlich wollen sie diese Gelegenheit nicht nutzen. Im Moment haben wir in Russland eine große Nachfrage nach Arbeitern. Unsere Industrie ist am Wiederaufbau. Aber wir haben Arbeitslosigkeit im humanitären Sektor, also im Bildungs- und Gesundheitswesen. Es gibt viele arbeitslose Fachleute in den Bereichen, die dem Staat unterstehen.
Drogen sind ein großes Problem. In meiner Stadt kann jeder Tag und Nacht Drogen kaufen. Marihuana ist in den gebildeteren Schichten verbreitet, aber in den Arbeitervierteln wird billiger Wodka und Heroinverschnitt gekauft.
Kennt Ihr eine ähnliche Organisation wie Solidarität International in Russland?
Nein. Vielleicht gibt es eine solche Organisation. Aber wenn es sie gibt, ist es keine große oder bekannte Organisation.
Und andere Nichtregierungsorganisationen, die nicht an Parteien gebunden sind, wie z. B. Amnesty International?
Oder kirchliche Hilfsorganisationen?
Wir kennen Amnesty International, wissen aber nichts über die Arbeit in Russland. Die Kirche ist nicht wichtig in Russland. Vor allem das Fernsehen versucht zwar, den Eindruck zu erwecken, dass die orthodoxe Kirche für die Menschen wichtig sei. Fakt ist aber, dass sie im täglichen Leben keine Rolle spielt. Allerdings unterstützt der moderne Russische Staat die Kirche. Die Steuer für die Kirche ist niedrig, und sie kann sehr günstige Kredite bekommen.
Denkt Ihr, es wäre gut, eine Organisation wie Solidarität International in Russland zu haben?
Ja, natürlich. Vor allem weil wir das Tschetschenien-Problem haben. Das Russische Volk braucht Solidarität, aber das tschetschenische Volk braucht sie noch mehr. Die Tschetschenen hatten Hoffnungen in die herrschende Klasse Europas, aber diese Hoffnung wurde vollkommen zerstört.
Wie denken die normalen Tschetschenen und Russen auf der Straße übereinander?
Wir haben eine sehr tiefe Spaltung unter den Russen in dieser Sache. Viele Menschen sind sehr pro-russisch und nationalistisch, aber viele Menschen haben auch gute Kontakte mit Tschetschenien oder andere Nationen.
Wie reagierte das Volk auf den Irakkrieg?
Die Russen hatten zwei Gefühle in Bezug auf diesen Krieg. Beide Gefühle waren gegen diesen Krieg gerichtet. Aber sie waren unterschiedlich. Die eine Seite war gegen die USA, aber auf der Seite der russischen herrschenden Klasse. Natürlich können die russischen Monopole keine niedrigen Ölpreise gebrauchen, deshalb unterstützten sie diesen Krieg nicht. Das andere Gefühl ist gegen die aggressive imperialistische Politik der USA.
Unser Problem in Russland ist, dass diese beiden Gefühle in der Bevölkerung vermischt sind. Wir müssen die nationalistischen und die friedensbewegten und antiimperialistischen Gefühle trennen. Viele Menschen haben den kalten Krieg auch noch nicht vergessen, deshalb sind sie gegen die USA, aber gleichzeitig kümmern sie sich eigentlich nicht um das irakische Volk. Die größte Demonstration wurde von der russischen Regierung organisiert. Regierungskritische Menschen wollten deshalb nicht daran teilnehmen.
Andere Organisationen organisierten Demonstrationen gegen den Tschetschenienkrieg, aber deren Losung lautet jetzt: »Kein Krieg in Tschetschenien, kein Krieg in Irak.« Für unser Volk ist der Irakkrieg wegen des Tschetschenienkriegs zweitrangig. Wir müssen zuerst gegen unseren eigenen Imperialismus kämpfen, aber wir sprechen über die Friedensbewegung und den Irakkrieg.
Was ist Eure Vorstellung von Internationalismus?
Wenn andere Menschen auf der Welt unseren Kampf unterstützen würden, wäre das gut für uns. Und umgekehrt genauso. Wie versuchen den Internationalismus unter den Russen zu verbreiten. Zum Beispiel veröffentlichten wir Artikel über die Lebensbedingungen von Nichtrussen (Ukrainern, Moldawiern) in unserem Land. Sie werden diskriminiert und ihre Lebensbedingungen sind schlecht.
Vielen Dank für das Gespräch. Wir hoffen, mit Euch in Kontakt zu bleiben, um Informationen austauschen zu können und uns eventuell gegenseitig zu unterstützen.
Ja, das wäre sehr gut. Wir haben gute Kontakte zu manchen Ländern aus der ehemaligen Sowjetunion, aber noch nicht darüber hinaus.